SCHMERZENTSTEHUNG UND SCHMERZWEITERLEITUNG

Was sind Schmerzen und wie entstehen sie? Mit der Schmerzentstehung sind komplexe biochemische Vorgänge verbunden. Manche Details dieser Schmerz-Prozesse sind bis heute unklar.

Erste Schmerz-Forschung im 17. Jahrhundert

Der französische Naturforscher René Descartes war der erste, der Mitte des 17. Jahrhunderts die Ursache von Schmerzen aus einem physiologisch-naturwissenschaftlichen Blickwinkel untersuchte. Er stellte einen Zusammenhang zwischen einem äußeren Schmerzreiz und seiner Weiterleitung ins menschliche Gehirn her. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann sich die Wissenschaft mit dem Thema Schmerz und seinen Erscheinungsformen auseinanderzusetzen.

Nozizeptoren – die Schmerzfühler

Inzwischen ist klar, dass Schmerzen durch die Aktivierung bestimmter Rezeptoren entstehen. Der britische Neurophysiologe Charles Scott Sherrington führte 1906 für Schmerzrezeptoren den Begriff „Nozizeptoren“ ein. Nozizeptoren sind „spezialisierte, primäre, afferente Nervenfasern“. Dabei handelt es sich um freie Nervenendigungen, die sich überall im Körper (Organe, Gelenke, Muskeln) und zu 90 Prozent in der Haut befinden. Sie sind die zahlenmäßig größte Rezeptoren-Gruppe im sensorischen Körpersystem. Nozizeptoren gewöhnen sich nicht an einen Schmerz. Vielmehr werden sie mit jeder Schmerzwiederholung empfindlicher.

Schmerzen fühlen – so funktionieren Nozizeptoren

Nozizeptoren gehören zum Frühwarnsystem in den Außenstellen des menschlichen Körpers. Daher ist es ihre Aufgabe, dem Gehirn sofort möglicherweise schädliche Einflüsse von außen zu melden. Sie arbeiten „multimodal“ und reagieren auf thermische (Hitze, Kälte), mechanische (Dehnung, Druck) und chemische Reize (Verätzung). Je stärker der Reiz, desto stärker die Reaktion der Nozizeptoren. Dabei werden immer mehr Schmerzrezeptoren in der Umgebung des schädlichen Reizes aktiviert, wodurch die Schmerzintensität zunimmt, da die Schmerz-Impulsfrequenz steigt.

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Schmerzweiterleitung – auf 2 Wegen

Der von den Nozizeptoren ausgelöste Schmerzimpuls wandert über zahlreiche Stationen über komplexe biochemische Vorgänge durch den Körper. Die Schmerzweiterleitung nutzt dabei zum einen biochemische Botenstoffe (Neurotransmitter) und zum anderen bioelektrische Prozesse im Nervensystem.

Nozizeptoren arbeiten bei der Schmerzweiterleitung zum Rückenmark zweigleisig:

  1. Der schnelle Schmerz-Weg: Über seine dicken, mit einer isolierenden Myelinscheide ummantelten A-delta-Fasern überträgt das Nozizeptoren-System den Reiz mit bis zu 120 Meter pro Sekunde. Typischerweise gilt dieser Weg für den genau zu lokalisierenden Erstschmerz, der meist schnell abklingt. Die schnelle motorische Reflexschaltung über das Rückenmark verhindert größere Schäden. Eine vom Gehirn gesteuerte Muskelreaktion würde in diesen Fällen zu lange dauern und den Körper gefährden.
  2. Der langsamere Schmerz-Weg: Die dünneren C-Fasern ohne Myelin-Ummantelung, übertragen den Schmerzreiz mit maximal 2 Meter pro Sekunde. Der Schmerzort meldet sich dabei ungenauer. Dieser Schmerzreiz ist dumpfer als der mit dem ersten Weg gemeldete Schmerz. Er signalisiert dem Körper, den betroffenen Bereich zu schonen.

Schmerzverarbeitung mit Botenstoffen

Über das Zentrale Nervensystem (ZNS) gelangt der Schmerz zu den Reaktionszentren des Körpers. Dabei bewerten verschieden Schaltstellen im Nervensystem den Schmerzreiz neu. Gleichzeitig beteiligen sich spezielle Botenstoffe an der Schmerzverarbeitung bis zur Schmerzwahrnehmung. Sie stehen miteinander in Wechselwirkung und können das Schmerzempfinden dämpfen oder verstärken. Zu den Botenstoffen für Schmerzreize gehören unter anderem:

  • Glutamat,
  • Gamma-Aminobuttersäure (GABA),
  • Glycin,
  • Calcitonin,
  • Enkephaline,
  • Somatostatin,
  • Dopamin,
  • Noradrenalin und
  • Serotonin
  • Substanz P.

Schmerzverarbeitung im Gehirn

Vom Rückenmark gelangen die Schmerzreize über das Zwischenhirn zum Thalamus. Der Thalamus bewertet erstmals den Schmerz emotional hinsichtlich seiner Erträglichkeit. Dann verteilt er den Schmerz-Impuls an weitere Gehirnregionen (limbisches System, Hypothalamus, Hypophyse, somatosensorischer Cortex, präfrontaler Cortex).

Diese Gehirnbereiche übernehmen verschiedene Aufgaben der Schmerzverarbeitung:

  • Der Hypothalamus als Herr des vegetativen Nervensystems passt Atmung, Blutdruck, Wärmeregulation und Schweißsekretion der Schmerzsituation an.
  • Die Hypophyse schüttet Stresshormone aus.
  • Am Ende erreicht der Schmerzreiz die Großhirnrinde mit dem präfrontalen Cortex. Dort wird der Schmerz bewusst und die Großhirnrinde bewertet ihn erstmals rational.

Die unterschiedlichen Bereiche des Zentralen Nervensystems und des Gehirns stehen bei der Schmerzverarbeitung laufend in Verbindung und stimmen ihre Reaktionen mithilfe biochemischer Vorgänge in Höchstgeschwindigkeit miteinander ab.

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Das Schmerz-Hemmsystem – Die „Gate Control Theory“

Schmerzimpulse können sowohl aufsteigend aus den Körperteilen als auch absteigend vom Gehirn gedämpft und beeinflusst werden. Der Körper besitzt so ein Schmerz-Hemmsystem mit komplexen Mechanismen und flexible, situationsabhängige Reaktionsmuster für Schmerzreize. Diese „Gate Control Theory“ erklärt, warum Menschen nach schwersten Verletzungen ihre Schmerzen zunächst nicht wahrnehmen (Stressanalgesie, Schmerzunempfindlichkeit).

Nozizeptoren und innere Organe

Nozizeptoren verhalten sich abhängig vom Gewebe, in dem sie angesiedelt sind. In inneren Organen wie der Leber werden sie durch schmerzerregende Botenstoffe (Mediatoren) aktiviert, die die Organe bei Gewebeschäden freisetzen. Zu diesen Schmerz-Mediatoren gehören:

  • Protonen,
  • Kaliumionen,
  • ATP,
  • Acetylcholin,
  • Bradykinin,
  • Histamine aus Mastzellen,
  • Prostaglandin E2,
  • Serotonin,
  • Neurotensin und
  • 5-Hydroxytryptamin.

Übertragungsschmerzen

Der Nozizeptor-Typ der C-Fasern tritt in der Haut und in inneren Organen auf. C-Fasern leiten ihre Schmerz-Signale jedoch teilweise an die gleichen Zielzellen im Rückenmark weiter. So kann es hier zu Fehlzuordnungen in der Schmerzwahrnehmung in der Großhirnrinde kommen. Sie identifiziert statt Organ-Schmerzen eine Hautpartie als Schmerz-Ort. Es kommt zu einem „Übertragungsschmerz“. Diese „Fehlschaltungen“ sind inzwischen als „Head-Zonen“ systematisiert. So kann ein rheumatischer Schmerz in der rechten Schulter beispielsweise auf Veränderungen in der Gallenblase hinweisen – oder der schmerzende linke Arm auf einen Herzinfarkt.

Letzte Aktualisierung: 23.03.2021

REFERENZEN

Modifiziert nach: Gallacchi G., Pilger B., Schmerzkompendium (eBook), 2. Auflage 2005, Thieme-Verlag, ISBN: 9783131559425, Zugriffsdatum 31. Mai 2018: https://www.thieme.de/shop/Schmerztherapie/Gallacchi-Pilger-Schmerzkompendium-9783131559425/p/000000000212714402?text=schmerzentstehung