GEDÄCHTNIS

Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigen sich Wissenschaftler mit den neurologischen Hintergründen der Gedächtnisbildung und des Lernens. Mitte des 20. Jahrhunderts stellte sich heraus, dass dafür die synaptische Plastizität verantwortlich ist – die Veränderungen der Informationsübertragung zwischen Nervenzellen.
 

3 verschiedene Gedächtnis-Arten

Heute ist klar: Erinnerung wird in einem Netz von Nervenzellen (Neuronen) gespeichert. Die Speicherung ist umso intensiver, je häufiger die gleichen Informationen in Form von Reizen aufgenommen werden. Die Neurophysiologen unterscheiden zwischen drei Qualitäten in der Organisation des Gedächtnisses

  • Deklaratives oder explizites Gedächtnis
  • Emotionales Gedächtnis

  • Prozedurales oder implizites Gedächtnis

3 Arten von Gedächtnis-Inhalten

Zum deklarativen Gedächtnis gehören

  • Episodisches Gedächtnis: Zeitlich und räumlich konkrete Geschehnisse, die in Beziehung zur eigenen Person stehen (autobiographisches Gedächtnis, Quellengedächtnis, Ortsgedächtnis, Kontextgedächtnis)
  • Wissens- oder Faktengedächtnis: Tatsachen ohne persönlichen Bezug und ohne Kontext
  • Vertrautheitsgedächtnis: Klassifikation nach „bekannt“ oder „unbekannt“

Das emotionale Gedächtnis filtert

Die verschiedenen Gedächtnisformen können durch Filterung ineinander übergehen. Neue Netzwerke des deklarativen Gedächtnisses werden erst dann ausgebildet, wenn bestimmte Informationen hinreichend neu und wichtig erscheinen. Wichtig werden sie vor allem aufgrund der Bewertung des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses, an dem bestimmte Hirnstrukturen beteiligt sind: Mandelkern (Amygdala) und mesolimbisches System. Generell gilt. Was emotional besonders eindrucksvoll erscheint, wird bevorzugt gespeichert und weitergeleitet.

Vom Kurzzeit- zum Langzeitgedächtnis

Das deklarative Gedächtnis kommt stufenweise zustande:

  • Augenblicksgedächtnis: Spanne zwischen ein und zwei Sekunden, extrem begrenzte Kapazität (nur etwa zwei Inhalte), sehr störanfällig, nicht wesentlich verbesserbar.
  • Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis: Spanne von zwei bis 30 Sekunden, sehr begrenzte Kapazität (etwa sieben Inhalte), störanfällig, aber verbesserbar durch Wiederholung und einfache Assoziationen.
  • Intermediäres Gedächtnis: Spanne von 30 Sekunden bis 30 Minuten, begrenzte Kapazität, die aber durch Mnemotechniken verbessert werden können.
  • Langzeitgedächtnis: Spanne von 30 Minuten bis Jahrzehnte, unbegrenzte Kapazität, die durch Mnemotechniken wesentlich verbessert werden kann.

Das Kurzzeitgedächtnis beruht auf physiologischer Veränderung der synaptischen Übertragungseigenschaften und ist daher generell instabil. Das Langzeitgedächtnis baut dagegen auf der Bildung neuer und der Veränderung oder dem Abbau vorhandener Synapsen. Es ist relativ stabil und emotionale Verstärkung spielt dabei eine wichtige Rolle.

Gedächtnis für Fertigkeiten

Das so genannte prozedurale Gedächtnis umfasst „gekonnte“, aber nicht im Detail sprachlich berichtbare Inhalte:

  • Fertigkeiten wie Schnürsenkel binden oder Fahrradfahren
  • Gewohnheiten, Stereotypien
  • Konditionierung durch reflexartige Einflüsse
  • Auswendiglernen („Pauken“)
  • „Priming" (Start- und Auffindhilfen für das Gedächtnis)

Botenstoffe steuern das Gedächtnis

Botenstoffe (Neurotransmitter) spielen bei der Verarbeitung, Speicherung und Abrufung von Gedächtnisinhalten im Rahmen der neuromodulatorischen Systeme eine unterschiedliche Rolle:

  • Noradrenalin ist beteiligt an Aktivierung, Erregung und unspezifischer Aufmerksamkeit.
  • Serotonin hat Einfluss auf Dämpfung, Beruhigung und Wohlbefinden.
  • Dopamin wirkt sich auf Antrieb aus, verspricht Belohnung und verursacht Neugierde.
  • Acetylcholin spielt eine Rolle für gezielte Aufmerksamkeit und Gedächtnissteuerung.

Hippocampus als „Telefonzentrale“

Wenn Informationen die erste Filterung im Kurzzeitgedächtnis überstehen, haben sie die Chance, im Langzeitgedächtnis gespeichert zu werden. Dabei spielt der Hippocampus als entwicklungsgeschichtlich alter Teil des limbischen Systems, eine entscheidende Rolle. Er ist für Gefühle zuständig.

Der Hippocampus hat Verbindungen zu allen Teilen des Gehirns, insbesondere zu solchen, die an der Verarbeitung der unmittelbaren Sinneseindrücke beteiligt sind. Er erhält Informationen über visuelle und akustische Sinneseindrücke. Gleichzeitig ist er im Kontakt zum Berührungs-, Geruchs- und Geschmackssinn. Daher arbeitet der Hippocampus als eine Art „Telefonzentrale“, die verschiedene Sinneseindrücke miteinander verbindet.

Durch Zufall entdeckt: die Rolle des Hippocampus

Die Rolle des Hippocampus wurde per Zufall nach der Hirnoperation an einem Patienten entdeckt, der an einer schweren Epilepsie litt. Mitte der 1950er Jahre entfernte man Epilepsie-Patienten bestimmte Gehirnteile, zu denen auch der Hippocampus gehörte, um die schwere Störung zu behandeln. Bei einem der Patienten verschwandt nach der Operation mit den epileptischen Anfällen auch das Lernvermögen.

Hippocampus und das deklaratorische Gedächtnis

Der Patient konnte sich an alle Erlebnisse vor der Gehirnoperation erinnern. Ohne Hippocampus konnte er aber keine neuen Gedächtnisinhalte mehr ins Langzeitgedächtnis speichern. Jedoch war es ihm möglich, auch ohne Hippocampus neue Fähigkeiten zu lernen. Der Hippocampus ist demnach erforderlich, um Erlebnisse dauerhaft im deklarativen Gedächtnis zu verankern. Für die Speicherung von Inhalten im prozeduralen Gedächtnis braucht es den Hippocampus nicht.

Das Gedächtnis ist flexibel

Erinnern gleicht einem Puzzle aus gespeicherten Hinweisen, dem fehlende Teile nach und nach zugefügt werden. Ein flexibles emotionales Filterprogramm kann Erinnerungen jederzeit einer Neubewertung unterziehen und somit verändern. Das limbische System mit dem Hippocampus ist dabei der Angelpunkt. Er entscheidet über alle Informationen, die dauerhaft gespeichert werden sollen.

Stress als Gehirn-Gift

Erkenntnisse der Gehirnforschung reichen noch weiter. Das Gehirn neigt unter Stress dazu, unvernünftig zu entscheiden und zu handeln. Stresshormone erregen in bestimmten Bereichen des Stirnhirns die Nervenzellen, so dass die Verschaltungen nicht mehr ordnungsgemäß funktionieren.

 

Letzte Aktualisierung: 11.05.2021

REFERENZEN

Quelle:
Modifiziert nach: Gruber T., Gedächtnis, 2. Auflage 2018, Springer-Verlag, ISBN: 978-3-662-56361-8, Zugriffsdatum 25. Mai 2018: https://www.springer.com/de/book/9783662563618