DIE ENTWICKLUNG DES NERVENSYSTEMS EINE ERFOLGSGESCHICHTE
Wie hat sich das komplexe menschliche Nervensystem entwickelt? Um diese Frage zu beantworten, nutzt die Wissenschaft heute molekulargenetische Methoden. Damit untersucht sie zum Beispiel nach Genabschnitten, die über Artgrenzen hinweg erhalten blieben. Damit lassen sich Abhängigkeiten rekonstruieren. Dabei stellte sich heraus, dass das Nervensystem auf der Zellebene im Lauf seiner Entwicklung wenig modifiziert wurde. Die elektrochemischen Eigenschaften der Nervenzellen bei einem Wurm, einer Biene, einer Maus oder dem Menschen sind sich ähnlich.
5 Erfolgsmodelle des Nervensystems
Fünf Grundtypen von Nervensystemen haben sich im Lauf der Evolution als so erfolgreich erwiesen, dass es sie heute noch gibt.
(1) Nervensystem – Stufe 1: Hohltiere
Das einfachste Modell besteht aus einem Netz von Nervenleitungen (Axonen) ohne zentrale Steuerungsinstanz. Die Reizleitung verläuft ungerichtet nach allen Seiten. Es findet sich heute bei Hohltieren wie Quallen und Nesseltieren.
(2) Nervensystem – Stufe 2: Plattwürmer
Bei den Plattwürmern kommen zwei weitere Konstruktionselemente hinzu.
1. Die bilaterale Symmetrie, eine Einteilung in eine linke und rechte Körperhälfte oder Rücken- und Bauchseite.
2. Die räumliche Verdichtung von Nervenzellkörpern in knotenartige Strukturen (Ganglien). Sie funktionieren wie ein primitives Gehirn. Das Nervensystem der Plattwürmer ist ausgehend von einem paarigen Oberschlund-Ganglion durch zwei Längsstränge aufgebaut, die durch Querstreben verbunden sind.
Dieses Konstruktionsprinzip ermöglicht eine gerichtete Erregungsleitung, zum Beispiel von Sensoren an den zentralen Nervenknoten (afferent) oder von der Zentrale an periphere Muskeln (efferent).
(3) Nervensystem – Stufe 3: Ringelwürmer
Die nächste Stufe mit zunehmender Zentralisierung des Nervensystems findet sich bei den Ringelwürmern wie dem Regenwurm oder bei Gliederfüßer (Insekten, Tausendfüßer, Spinnen, Skorpione, Milben, Krebstiere). Neben dem vergrößerten Oberschlund-Ganglion im Kopfbereich (Verarbeitung der Sinnesreize), entwickelten sich in den Körpersegmenten weitere Ganglien. Sie sind über die beiden bauchseitig verlaufenden Nervenstränge und die Querstreben wie bei einer Strickleiter miteinander verbunden – „Strickleiter-Nervensystem“. Diese zusätzlichen Ganglien der Körpersegmente steuern als Teil des nun schon stärker zentralisierten Nervensystems oft autonom die Bewegung der Bein- oder Flügelmuskulatur.
(4) Nervensystem – Stufe 4: Weichtiere
Zwei weitere mit Ganglien strukturierte Längsstränge (insgesamt vier), sind das Kennzeichen der Weichtiere oder Mollusken (Muscheln, Schnecken und Kopffüßer). Der achtarmige Krake verfügt über ein besonders hoch entwickeltes Nervensystem mit zentraler Lenkung. Es besteht aus einem leistungsfähigen ringförmigen Hirn, ergänzt durch acht Nebenhirne, die jeweils einen der Arme steuern.
(5) Nervensystem – Stufe 5: Wirbeltiere
Ein echtes Zentralnervensystem (ZNS) aus Gehirn und Rückenmark kennzeichnet die Familie der Wirbel- oder Schädeltiere. Dazu zählen kleine Knorpelfische, Amphibien, Reptilien, Vögel und schließlich die Säugetiere, einschließlich des Mensch, bis hin zum Blauwal. Der Bauplan unterscheidet sich grundlegend von den Nervensystemen der wirbellosen Tiere.
Das zunächst in Vorderhirn, Kleinhirn und Hirnstamm gegliederte Gehirn der Wirbeltiere hat sich über Jahrmillionen aus dem Rückenmark entwickelt. Kennzeichnend ist eine starke hierarchische Gliederung zwischen einzelnen Hirnteilen. Das Vorderhirn dient der Informationsverarbeitung, das Kleinhirn koordiniert den Bewegungsapparat und der Hirnstamm steuert Herzschlag und Atmung. Es existiert ein somatisches und ein vegetatives Nervensystem.
Typisch für die Säugetier-Entwicklung – vor allem des Menschen – war ein starkes Größenwachstum des Vorderhirns zum End- oder Großhirn sowie die Entstehung des Neocortex. Mit seinen überlegenen kognitiven Fähigkeiten stellt der Neocortex rund 90 Prozent der Großhirnrinde. Um den begrenzten Raum der Schädelhöhle optimal zu nutzen, ist die Großhirnrinde stark gefaltet. So findet eine Oberfläche von weit über 2.000 Quadratzentimetern Hirnrinde mit extremer Neuronen-Dichte dort Platz.
Letzte Aktualisierung: 23.03.2021
REFERENZEN
Modifiziert nach: Roth G., Lexikon der Neurowissenschaft, Evolution der Nervensysteme und Gehirne, spektrum.de, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Zugriffsdatum 05. Juni 2018: https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/evolution-der-nervensysteme-und-gehirne/3758