WAS SIND CHRONISCHE SCHMERZEN

Chronische Schmerzen entstehen durch ein komplexes psychosomatisches Zusammenspiel aus körperlichen Signalen, neuronalen Prozessen, seelischen Stimmungen und sozialen Faktoren.

Chronische Schmerzen – Schmerzsignale sind aktiv

Akute Schmerzen übernehmen eine Warn- und Schutzfunktion drohender Gefahr und haben eine physiologische Ursache wie eine Verletzung oder Erkrankung. Dagegen finden sich für chronische Schmerzen auf den ersten Blick keine körperlichen Ursachen. Inzwischen ist klar, dass chronische Schmerzen physiologisch greifbare Auslöser haben. Denn Schmerzsignale werden nicht nur passiv vom Nervensystem transportiert, sondern sie wirken aktiv auf ihre Signalwege ein.

Schmerzgedächtnis und chronische Schmerzen

Der Hintergrund chronischer Schmerzen ist, dass der Körper Schmerzen „lernt“. Er bildet ein „Schmerzgedächtnis“. Denn dauerhafte Schmerzen erhöhen die Sensibilisierung der neuronalen Verbindungen des Zentralen Nervensystems (ZNS), die auf Schmerzreize spezialisiert sind. Möglicherweise sind auch die Emotionszentren des limbischen Systems im Gehirn und Strukturen der Großhirnrinde von diesem Prozess betroffen.

Schmerzwahrnehmung in 2 Phasen

Bei einer Verletzung durchläuft die Schmerzwahrnehmung zwei Phasen. Nach dem Erstschmerz folgt eine kurzfristige Schmerzlinderung. Verantwortlich dafür ist das körpereigene Schmerz-Hemmsystem sowohl im Rückenmark als auch im Gehirn. Dabei binden körpereigene Opioide an spezielle Rezeptoren und unterdrücken so starke Schmerzreize. Nach der vorübergehenden Schmerzlinderung lockert sich die körpereigene „Schmerzbremse“, damit sich durch die wiedereinsetzenden Schmerzen die verletzte Körperstelle ruhigstellt und der Heilungsprozess beginnen kann.

Dauerhafter Schmerz bildet ein Schmerzgedächtnis

Dabei kann gleichzeitig in der neuronalen Peripherie und im Gehirn eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit auftreten. Sie entsteht zum einen durch Entzündungen aufgrund von Botenstoffen des geschädigten Gewebes. Zum anderen sind daran Signalweiterleitungsprozesse durch die Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) beteiligt.

Diese erhöhte Schmerzempfindlichkeit verringert sich, sobald der Schmerz durch eine wirksame Therapie abklingt. Hält der Schmerz jedoch an, kann es zu einer „zentralen Sensibilisierung“ kommen, bei der sich ein Schmerzgedächtnis ausbildet: Der Schmerz wird chronisch – das heißt, die Schmerzen dauern länger als sechs Monate an.

Chronische Schmerzen – die Biochemie dahinter

Bei einer schweren oder nicht ausreichend behandelten Verletzung senden die C-Fasern des Nozizeptoren-Systems pausenlos Schmerzbotschaften über den Botenstoff Substanz P (ein Neuropeptid). Die Nervenzellen im Dorsalhorn des Rückenmarks reagieren mit verstärkter Antwort. Die Signalprozesse verstärken sich gegenseitig („Wind-up“). Dabei stellen Rezeptoren an den Kontaktmembranen (Synapsen) zwischen den C-Fasern und den Rückenmarks-Nervenzellen ihre Funktion dauerhaft ein. Diese Rezeptoren blockieren bei Gesunden diese Signalverstärkung. Ohne diese Blockade ist die Nervenleitung künftig für unmotivierte Schmerzimpulse offen.

Neuroplastizität als Grundlage für das Schmerzgedächtnis

Intensive und länger andauernde Schmerzen beeinflussen die Genaktivitäten in den Nervenzellen des Gehirns. Es kann zu Veränderungen von neuronalen Verschaltungen und zum Umbau von Nervenzell-Netzwerken kommen (Neuroplastizität). In der Folge verändert sich auch der genetische Bauplan für den Aufbau und die Funktion spezieller Nervenzellen der Schmerzverarbeitung. Sie sind leichter erregbar und ständig aktiv. So bleibt das Schmerzempfinden bestehen, auch wenn die Ursache längst weggefallen ist.

Selbst harmlose Reize, können künftig als schmerzhaft empfunden werden. In manchen Fällen treten Schmerzen ohne Reiz auf.

Letzte Aktualisierung: 11.05.2021

REFERENZEN

Modifiziert nach: Gallacchi G., Pilger B., Schmerzkompendium (eBook), 2. Auflage 2005, Thieme-Verlag, ISBN: 9783131559425, Zugriffsdatum 31. Mai 2018: 
https://www.thieme.de/shop/Schmerztherapie/Gallacchi-Pilger-Schmerzkompendium-9783131559425/p/000000000212714402?text=schmerzentstehung